Donnerstag, 19. Dezember 2013

Lebensgeschichten #5

Hallo miteinander,
 
nachdem ich den Aufruf für meine "Sammelaktion" veröffentlicht hatte, erhielt ich eine Email von J..
Sie schrieb, dass sie von meiner Lebensgeschichte fasziniert sei und wollte deswegen auch unbedingt eine Geschichte für mich schreiben. Sie meinte: "Die Idee ist toll, aber die Wahrheit ist leider, dass ich keine Mut-mach-Geschichte zu erzählen habe, oder zumindest nicht das Gefühl habe, das zu haben...".
 
Ich fand das so schade und habe nochmal nachgehakt. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass ein paar Tage später doch noch eine Geschichte kam.
 
Liebe Hanni,

ich habe lange nachgedacht und nun ist mir eine Geschichte eingefallen, die ich gerne mit dir und anderen teilen würde. Sie beschreibt bei weitem nicht mein ganzes Leben, aber viele wichtige Punkte spreche ich an.
 
Also:
 
Am ersten Mai 2010 starb meine Mutter. Ich war 18 Jahre alt und saß neben ihrem Krankenhausbett, als sie sich ein letztes Mal aufbäumte und dann endgültig aufhörte zu atmen. Ein Trauma wird als Situation verstanden, in der man größte Hilflosigkeit und eine außergewöhnliche Bedrohung erfährt. Dass ich mich in diesem Moment veränderte und meine Welt sich verschob, habe ich natürlich nicht sofort mitgekriegt. Was ich wusste war, ich muss nun meinem Vater bescheid sagen, der für drei Stunden nach Hause gefahren war, um sich auszuruhen und ich muss die Krankenschwester rufen und irgendwie auch sonstige Leute verständigen. Irgendwie schaffte ich das auch alles und mein Vater und ich lebten danach erstmal von Tag zu Tag und bemühten uns um ein bisschen Alltag. Zumal ich in der gleichen Woche noch meine letzten Abiturprüfungen hatte, die ich nicht abbrechen wollte.

 Zum Abitur gehören ziemlich viele Feiern. Mein Jahrgang war sehr gut darin, Partys zu organisieren und zum eskalieren zu bringen. Mir kam der Alkohol, denke ich, sehr gelegen, denn was soll man denn sagen, wenn Leute einen mit tottrauriger Miene fragen, wie es einem geht, während im Hintergrund die Masse tobt? Sollte ich jedes Mal alles erzählen, was ich zuvor ein Jahr lang in der Psychotherapie erzählt hatte, nämlich dass das Verhältnis zu meiner Mutter nicht gut war und ich mich nie wirklich mit ihr verstanden hatte, weil wir einfach zu verschieden waren ? Nein, denn dieser Eindruck hatte sich inzwischen verflüchtigt. Also trank ich lieber und ließ die Leute sich ihre eigenen Gedanken machen.
 
Zusätzlich war auf einmal ein Bedürfnis nach Anerkennung und nach menschlicher Nähe erwacht. Die Kombination dieser Gefühle und Schnaps in allen Arten führte zu einigen unschönen Affären. Zuerst ließ ich mir das Herz brechen, dann brach ich ein, zwei Herzen und viele Begegnungen hatte ich beim Aufwachen am nächsten Morgen schon wieder vergessen.
 
Da ich mein Abi ganz gut bestanden hatte und meinen Vater nicht allein lassen wollte, blieb ich anders als ursprünglich vorgesehen in Deutschland und fing sofort an zu studieren. Meine neue Stadt war 300 km von zu Hause entfernt und ich hatte schreckliches Heimweh. Vor allem aber vermisste ich meine Mutter. Ich konnte mich nur noch an die guten Tage erinnern und die schönen Sachen die sie gemacht hat und ich war mir sicher, sie hätte in dieser Phase meines Lebens unbedingt dabei sein wollen. Also passierte es oft, dass ich mich in meiner neuen Wohnung in den Schlaf weinte, aber nur in der Heimat Leute hatte, mit denen ich darüber reden konnte und per Telefon ist es oft schwierig Tränen zu trocknen. Mein Bedürfnis nach Nähe war ununterbrochen da und fast ununterbrochen gingen auch meine Affären weiter, jedes Wochenende eine Uni-Party, jedes Wochenende irgendein Typ. Sie waren mir inzwischen alle unwichtig und irgendwann passierte, was vermutlich passieren musste. Jemand hörte nicht darauf, was ich sagte und schlief mit mir, obwohl ich das offensichtlich nicht wollte. Danach schaffte ich es noch ihn rauszuschmeißen bevor ich vollkommen fertig erstmal einschlief.
 
Das Aufwachen danach war furchtbar. Ich fühlte mich dreckig und benutzt. Auf einmal kam ich mir so unbedeutend und klein und kraftlos vor, dass ich nichts mehr konnte. Die Freundin die ich anrief, riet mir, nach Hause zu kommen und ich nahm den nächsten Zug, den ich erreichen konnte. Die Veränderung die diesmal in mir vorging merkte ich. Plötzlich hatte ich Angst, immer und überall, vor allem und jedem. Ich ging viel weniger weg, ich trank gar nicht mehr und Männern vertraute ich schonmal überhaupt nicht mehr.
 
Jetzt im Nachhinein kann ich den Tod meiner Mutter mit meinem Verhalten in dem Jahr danach in Verbindung bringen. Damals dachte ich allerdings, das eine hätte mit dem anderen auf keinen Fall zu tun. Ich hatte das Gefühl, immer nur alles falsch zu machen, in den verschiedensten Bereichen meines Lebens. Irgendwie konnte ich auch immer alles so erklären, dass es meine Schuld war, egal ob es um einen Tag, an dem ich zu wenig gelernt hatte oder um den Hunger in der Welt ging. Und natürlich war ich auch Schuld daran, dass es mir nicht gut ging. Also hängte ich mich doppelt so hart in die hochschulpolitische Arbeit, in der Hoffnung, erstens etwas zu bewegen und zu verbessern und zweitens, um mich von der Beschäftigung mit mir selber abzulenken.
 
So lebte ich lange Zeit. Immer am Limit meiner Leistungsfähigkeit und in totaler Selbstverleugnung.
Dann war mal wieder ein Semester zu Ende und ich hatte einen Nachmittag lang nichts zu tun. Also nahm ich die Einladung eines Kommilitonen an, in seiner WG ein wenig zu feiern. Und dort passierte etwas Geniales. Ich traf einen Mann, dessen Ausstrahlung ich als so unschuldig und selbstlos wahrnahm, dass ich in der Lage war, ihm noch am gleichen Abend zu vertrauen und mit auf eine Party zu gehen. Natürlich wartete ich diesmal viel länger, bevor ich überhaupt Körperkontakt zuließ.
Aber er war es. Mein neuer Versuch, mein Rückweg in die Normalität.
 
Wir konnten, quasi sofort, über alles reden, vor allem über Abstraktes und Hypothetisches, aber auch über persönliche Prinzipien und irgendwann auch über Erfahrungen. Ich legte meine Erinnerungen bei ihm ab und wusste, dort wären sie sicher und würden verständnisvoll aufgenommen werden.
Heute sind wir seit fast drei Jahren zusammen und planen im August 2014 unsere Hochzeit. Meine Depressionen wurden zwischenzeitlich nochmal schlimmer, viel schlimmer, aber ich hatte das Selbstbewusstsein, mich in stationäre Behandlung zu begeben und wir brachten das zusammen ziemlich gut hinter uns. Inzwischen kann ich über vieles reden, was vor zwei Jahren noch fast unmöglich war, ich kann mein Verhalten verstehen und Impulshandlungen bewerten.
Viel davon verdanke ich Freunden und vor allem M. und dafür bin ich unendlich dankbar, aber ich kann (und möchte) inzwischen auch stolz darauf sein, mir im entscheidenden Moment den Absprung zugetraut, und seitdem auf mich selber aufgepasst zu haben.
 
Viele liebe Grüße und eine dicke Portion positive Energie :-)
 
Liebe J.,
 
es braucht unheimlich viel Kraft, aus so einem Strudel von Alkohol, Affären und Selbstzerstörung herauszukommen. Und es braucht noch mehr Kraft, wieder Vertrauen in sich selbst UND einen anderen Menschen zu haben. Ich danke dir vielmals, dass du das hier gerne teilen möchtest.
 
Deine Hanni
 
 

1 Kommentar:

  1. Eine starke Geschichte! Ich wünsche dir, dass du deinen Weg so mutig weitergehst.

    LG
    Zwei Linien

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